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Die richtige Entscheidung

 

Laura schaut mit leerem Blick aus dem Fenster. Sogar heute kommt er zu spät, denkt sie. Gedankenverloren starrt sie auf die Kinder, die auf dem Spielplatz vor ihrem Haus herumtoben. Ein sanftes Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Was wäre wenn? Sie weiß es nicht. Seit Tagen denkt sie darüber nach und kommt zu keinem Ergebnis. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Typisch! Schon zehn Minuten zu spät. Nicht mal zu einem so wichtigen Termin kann er pünktlich sein. Sie ist enttäuscht. Aber was hat sie erwartet? Wie immer zu viel.

Schon letzte Woche als sie das Beratungsgespräch hatten, ist Max nicht aufgetaucht. Er hat' s vergessen, hat er gesagt. Wie kann man nur so etwas vergessen? Laura konnte schon zwei Nächte davor nicht mehr schlafen. Und als sie endlich dort war, war ihr ununterbrochen schlecht. Sie hatte sich die ganze Zeit gefragt, warum diese Organisation ausgerechnet „ProFamilia“ heißt. Aber egal, sie hatte die Bescheinigung auch ohne die Hilfe von Max bekommen. Aufgeregt hatte sie sich trotzdem. Auch wenn es typisch für ihn war, sie hätte seine Unterstützung dringend gebraucht.

 

Max ist zweiundzwanzig und mitten im Physikstudium. Er hat hart dafür gearbeitet, er hat keine Zeit für ihre Probleme. Meine Probleme – eigentlich ist es auch sein Problem! Aber Max sieht das nicht so. „Diese Entscheidung musst du treffen“, hat er gesagt, „ich unterstütz' dich so gut ich kann, aber das Studium ist momentan das Wichtigste.“

Damit war das Thema für ihn beendet. Laura hatte diese Aussage schwer getroffen.

Wenn es nur für mich auch so leicht wäre! Sie versucht Max zu verstehen, aber es fällt ihr schwer.

 

Laura ist verzweifelt. Wo bleibt er nur? Langsam wird sie ungeduldig. Sie steht auf und geht durch das Wohnzimmer. Vielleicht sollte ich nochmal gucken, ob ich alles eingepackt habe. Sie läuft ins Schlafzimmer, setzt sich auf ihr Bett und zieht die Tasche, die vor ihr auf dem Boden steht, zu sich. Ein Handtuch, frische Unterwäsche, ihr Mutterpass.

Sie nimmt das kleine blaue Heft und betrachtet es lange. Wie oft hat sie in den letzten Tagen dieses Büchlein angestarrt und sich gefragt, was sie tun soll.

 

Laura lebt in einer kleinen Zweizimmerwohnung am Stadtrand von Marburg. Sie ist vor einem Jahr in diese Wohnung gezogen, weil sich ihre Eltern entschieden haben ihren Ruhestand in einem kleinen Häuschen in Ungarn zu verbringen. Laura fand die Idee toll, allerdings ahnte sie da noch nicht, wie einsam sie sich manchmal fühlt. Die Ratschläge ihrer Mutter nur übers Telefon zu bekommen ist einfach nicht dasselbe wie früher. Eigentlich kommt sie ganz gut mit der Situation zurecht. Ihre Eltern waren immer viel unterwegs, sie hat früh gelernt selbständig zu sein. Endlich eine eigene Wohnung – und dann auch noch mit Max, ihrer ersten großen Liebe. Was wollte sie mehr? Ihre Eltern hatten ihr versprochen die Wohnung vorerst bis zum Abschluss ihres Abiturs zu bezahlen, danach wollten sie gemeinsam eine andere Regelung finden. Alles hatte gepasst. Max und Laura hatten die Wohnung gemeinsam ausgesucht und eingerichtet. Die Einrichtung war zum Teil noch etwas sporadisch, aber sie fanden es beide gemütlich.

Noch bis vor drei Wochen hatten sie eine harmonische Beziehung und genossen ihre neue Zweisamkeit. Lauras Mutter rief täglich an, fragte nach wie alles lief und erzählte aufgeregt von dem netten kleinen Haus an einem abgelegenen See. Weit weg vom Großstadttrubel hatten ihre Eltern ein schönes neues Zuhause gefunden.

Auch Laura fand das Haus gemütlich. Die rustikale Einrichtung und der Blick auf den Weinberg hatten sie sofort überzeugt. Sie hatte ihre Eltern schon mehrmals besucht und immer wieder neue schöne Sachen entdeckt. Die ungarische Kultur und die Gelassenheit der Leute hatten einen unglaublichen Eindruck bei Laura hinterlassen.

 

Der Anrufbeantworter piepste und riss Laura aus ihren Gedanken: “ Hallo Schatz, wir hoffen dir geht’ s gut und du kommst uns bald wieder besuchen. Hast du schon mit Max darüber gesprochen? Ruf mich einfach kurz zurück, wenn du wieder da bist. Ich drück dich.“

Mamutsch hat echt einen siebten Sinn dachte Laura und lächelte besonnen. Als ob sie spüren würde das etwas nicht stimmt, rief sie heute schon zum dritten Mal an und sprach immer wieder von denselben belanglosen Dingen.

Sofort wurde Lauras Gesicht wieder starr.

Nicht mal ihrer Mutter, mit der sie sonst über alles sprach, hatte Laura von ihrem Vorhaben erzählt. Und das würde sie auch nicht tun. Sie musste ihre Entscheidung allein treffen, immerhin betraf sie ihr ganzes Leben.

Wie drei Wochen ein ganzes Leben verändern können. Was heißt drei Wochen, eigentlich waren es nur ein paar Sekunden.

Laura wird diesen Moment wohl nie wieder vergessen. Eine Woche nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte es angefangen. Jeden Morgen war ihr schlecht. Anfangs dachte sie an einen Virus, aber nachdem sie gar nichts mehr bei sich behalten konnte, hatte sie einen Arzt aufgesucht.

Dieser Tag hatte sich in ihr Hirn gebrannt. Der 20. Oktober 2007. Der Tag, der ihr Leben verändert hat. Egal wie alles weitergeht, damit hat alles angefangen. Auch den Gesichtsausdruck von Max wird sie nie vergessen. „Da war dein Geburtstag ja ein voller Erfolg.“, war das einzige, was er abschätzig dazu zu sagen hatte. Das hatte sie tief verletzt. „Du warst nicht ganz unbeteiligt, soweit ich mich erinnern kann.“ Laura hatte versucht cool zu wirken, aber innerlich zerbrach in diesem Moment etwas in ihr. Sie hatte sich ihre Zukunft mit Max ganz anders vorgestellt. Nach ihrem Abitur in sechs Monaten wollte er eine Studienpause einlegen und sie wollten eine lange Reise nach Kuba machen. Die Kultur hat beide schon immer fasziniert und sie wollten Land und Leute richtig kennen lernen. Danach sollte Laura sich entscheiden, ob sie eine Ausbildung oder auch ein Studium beginnt.

Dann vielleicht eine größere Wohnung, ein Auto, sie hatten so viele Pläne.

So schnell kann sich das ändern. Laura verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und lässt sich nach hinten auf ihr Bett fallen. Sie rollt sich zur Seite und zieht die Beine an. Eine Hand ruht auf ihrem flachen Bauch, in der anderen hält sie immer noch das kleine blaue Heft.

 

Sie blickt erneut auf die Uhr. Kurz vor halb vier. Wo steckt er nur? Laura wurde langsam wütend. Sie stopfte den Mutterpass, auf den sie die ganze Zeit gestarrt hatte in die Tasche und stand auf.

Im selben Augenblick fiel die Wohnungstür ins Schloss.

Laura?“ „Ich bin im Schlafzimmer.“

Max lässt seine Jacke im Flur fallen und geht ins Schlafzimmer. „Hey Süße, ich weiß, ich bin spät dran..“ „Ja, ist ja nichts neues!“ Laura nimmt die gepackte Tasche und geht mit ausdruckslosem Gesicht an Max vorbei. „Lass uns gehen, sonst ist der Termin geplatzt.“

Max dreht sich auf dem Absatz um und läuft Laura nach. Sie ist bereits im Flur und wäre fast über die Jacke gestolpert, die Max achtlos in den Weg geworfen hat. Sie flucht leise vor sich hin. Max sagt kein Wort. Er weiß, momentan würde alles, was er sagt zu einem Streit führen und dafür ist jetzt absolut keine Zeit. Er schnappt sich seinen Autoschlüssel und zieht die Tür hinter sich zu.

Laura steht bereits an der Haustür.

Schweigend laufen sie zu dem kleinen alten Opel, den Max sich vor ein paar Monaten geleistet hat.

Auf der Fahrt in die Klinik hängen beide ihren Gedanken nach. Laura fragt sich noch immer welche Entscheidung die richtige ist. In ein paar Monaten hab ich mein Abitur in der Tasche, dann kann das Leben richtig losgehen oder? Irgendwie ist es anders losgegangen als geplant, denkt sie und beißt sich auf die Unterlippe.

Max betrachtet sie von der Seite. Er sieht die Verzweiflung in ihren Augen. Aber was soll er machen? Es war ein Fehler, aber es ist nun mal passiert. Er ist noch nicht bereit sein jetziges Leben aufzugeben. Zu hart hat er um seinen Studienplatz gekämpft. Er hat weder Geld, noch das Gefühl für diesen Familienquatsch.

Lauras Handy klingelt. Sie kramt in ihrer Tasche und zieht es schließlich heraus. Auf dem Display steht „Mamutsch“. Sie gibt nicht auf, denkt Laura, und lächelt in sich hinein. Aber sie kann jetzt nicht mit ihrer Mutter reden ohne sich zu verraten. Die Tränen stehen ihr in den Augen und sie hat einen dicken Kloß im Hals. Sie drückt auf einen kleinen Knopf und die Melodie verstummt.

Gib mir n kleines bisschen Sicherheit, in einer Welt, in der nichts sicher scheint...“ Laura summt leise vor sich hin. Warum hat sie sich nur diesen Song als Klingelton ausgesucht? Sie weiß es nicht mehr. Ihr Kopf ist leer.

Als das Auto auf dem Parkplatz vor der Klinik hält, ist Laura auf einmal schlecht. Sie kann sich nur mit Mühe beherrschen und steigt aus dem Wagen aus.

Was soll ich nur tun?

Max läuft unbeteiligt neben ihr her und sagt kein Wort. Ich muss noch für meine Prüfung am Freitag büffeln, geht es ihm durch den Kopf.

Laura zieht die große Glastür auf und läuft auf die Information zu. Max trottet hinterher.

Mein Name ist Laura Stein. Ich habe einen Termin bei Frau Dr. Brockda.“

Hallo Frau Stein. Frau Brockda ist im zweiten Stock. Bitte nehmen Sie den Aufzug am Ende des Ganges und setzen Sie sich oben in den Wartebereich. Ich werde Frau Dr. Brockda sagen, dass Sie da sind. Sie wird Sie dann aufrufen, wenn sie soweit ist.“

Danke.“ Laura hat das Gefühl zu ersticken. Das letzte Wort kam ihr kaum über die Lippen.

Ich bin nervös“ , flüstert sie Max zu, als sie durch den langen Gang in Richtung Fahrstuhl laufen. Das gedämpfte Licht und der graue Boden entfalten eine seltsame Atmosphäre. Alles wirkt steril und kalt.

Du schaffst das schon“ , flüstert Max zurück. Der hat leicht reden!

Die Aufzugtüren schließen sich und beide schweigen wieder.

Als sich die Tür öffnet, steigen sie aus und betrachten den Gang. An den Wänden hängen von Kindern gemalte Bilder und Fotos von Kindern in den verschiedensten Lebenslagen. Laura beginnt unbewusst zu lächeln. Max schiebt sie in Richtung der Wartestühle und setzt sich neben sie.

Er zieht sein Handy aus der Tasche und beginnt, die ihm so eben zugestellte SMS zu lesen: FANGE JETZT AN MIT LERNEN. BIN AB 5 IM CAFE AM MARKT. WARTE HIER AUF DICH DICKER KUSS SUSAN

Max klappt sein Handy leicht nervös wieder zu und schaut Laura an. Die sitzt in Gedanken versunken neben ihm und nestelt an ihrer Jacke.

Ich muss gehen.“ sagt Max leise. „Frau Stein bitte.“ Im selben Moment geht eine Tür auf und eine Krankenschwester kommt heraus. Laura blickt verwirrt auf. „Du musst was?“, sie versucht sich zu beherrschen. „Ich muss noch lernen.“ „Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!“ „Es tut mir leid, aber ich hab das mit Susan schon lange ausgemacht und konnte es nicht mehr verschieben. Du weißt wie wichtig mir mein Studium ist.“ „Dein Studium?“, Lauras Stimme piepst nur noch. Sie hat Mühe ihre Tränen zurückzuhalten. „Und was ist mit mir? Und... und wer zum Teufel ist Susan?“ „Sie ist eine Kommilitonin. Ich kann dir hierbei eh nicht helfen. Ich hol dich nachher ab“, sagt Max leichtfertig.

Das brauchst du nicht.“ Laura ist mit einem mal ganz ruhig. Sie ist wütend, aber sie zeigt es nicht. „Wenn ich nach Hause komme, möchte ich, dass du weg bist. Pack deine Sachen und geh.“ Sie weiß nicht, woher sie gerade jetzt die Kraft dafür nimmt, aber sie sagt es in einem ruhigen bestimmten Ton.

Max sieht sie ausdruckslos an. Er weiß, dass sie es ernst gemeint hat, aber es berührt ihn kaum.

Kein Problem“, sagt er flapsig. Er steht auf, gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und geht. „Lass mich wissen wie du dich entschieden hast“, ruft er noch im gehen.

Laura ist fassungslos. Er geht einfach so weg. Wegen seinem Studium und einer Susan, von der sie zum ersten Mal etwas gehört hat.

Frau Stein bitte.“

Als Laura sich gerade in Richtung der Krankenschwester bewegen will, beginnt wieder ihr Handy zu klingeln. Max – geht es Laura durch den Kopf, doch auf dem Display steht „Mamutsch“.

Das ist zu viel. Laura bricht in Tränen aus. Sie geht zu der Tür, in der die in weiß gekleidete Frau bereits ungeduldig wartet.

Sie hat ihr Handy immer noch in der Hand und starrt auf das Display.

Kurz entschlossen nimmt sie ab und sagt unter Tränen: „Mamutsch ich hab ein riesiges Problem.“

Dann schließt sich hinter ihr die Tür.

 

Nur fünfzehn Minuten später öffnet sich diese bereits wieder und Laura tritt auf den Gang. Das Handy hat sie noch am Ohr. Noch immer rollen ihr die Tränen übers Gesicht, aber sie lächelt zaghaft.

Danke Mami. Ich ruf dich nochmal an, wenn ich daheim bin. Ich hab dich lieb.“ Dann legt sie auf und setzt sich erneut auf einen Stuhl im Wartebereich.

Mein Gott, schon wieder hat sich mein Leben innerhalb kurzer Zeit total verändert. Was in einer Viertelstunde so alles passieren kann. Noch auf dem Weg in dieses Zimmer hab ich nicht gewusst, was ich tun soll und ob ich es schaffe das kleine Lebewesen in mir zu töten. Laura sackt in sich zusammen und blickt auf die selbst gemalten Bilder und Fotos an der Wand.

Ich werde das schaffen! Erstmal konzentriere ich mich auf mein Abi und danach...

Soweit kann Laura jetzt nicht mehr denken. Sie ist müde und ausgelaugt. Aber auch froh, dass ihre Mutter jetzt alles weiß. Sie hat ihr Mut zugesprochen und gesagt, dass sie sobald wie möglich kommen wird. Dann werden sie alles planen und überlegen wie die Zukunft aussehen soll.

Schon komisch, denkt Laura, noch vor fünfzehn Minuten dachte ich, ich werde zum Mörder.